#PoIitik Im Sommer 2018 veröffentlichte das Tierrechtsradio eine Sendung zum Thema ‘Veganwashing in Israel’. Als Hauptquelle dafür diente ein Interview mit der jüdisch-amerikanischen Tier- und Menschenrechtsaktivistin Laura Schleifer (‘Vegan Vanguard Podcast’). Mit der Sendung wollten wir aufzeigen, wie sich die israelische Regierung am Hype um den Veganismus bedient, um das eigene Image aufzubessern. Durch das tagelange, wütende Kommentieren einiger Individuen auf Facebook bekam der Post viel Aufmerksamkeit und zuletzt erreichte uns der Vorwurf des Antisemitismus sogar aus der Schweizer Tierrechtsszene. Um Missverständnissen entgegen zu wirken, möchten wir hier auf die Vorwürfe reagieren.
Vorweg: Wir vom TRR vertreten einen pro-intersektionalen Ansatz. D.h. wir lehnen jegliche Form der Diskriminierung ab, inklusive Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie. Um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Diskriminierungsformen aufzuzeigen, befassen wir uns so auch immer wieder mit Menschenrechtsthemen - entweder, wenn ein direkter Zusammenhang besteht (wie im Fall von Israel), oder wenn es die Aktualität betrifft (wie im Fall der USA; Sendung ‘BLM und Rassismus’). Wo wir politisch stehen, haben wir von der ersten Sendung an immer wieder wieder betont (‘Human rights are animal rights’) und den gemeinsamen Befreiungskampf in praktisch jedem Interview angesprochen. Wir haben uns sowohl mit der marxistischen / anarchistischen Theorie der Tierbefreiung ('Strategien der Fleischindustrie' / 'VegAnarchismus') als auch mit Veganismus in der LGBTQ-Community befasst ('Intersektionalität mit Anna Rosenwasser') - und uns dabei immer klar politisch positioniert. Der Vorwurf des Antisemitismus scheint und entsprechend absurd. Trotzdem nehmen wir zur Kenntnis, dass wir mit dem Beitrag Gefühle verletzt haben und möchten dies in Zukunft verhindern.
Vorwurf Nr 1: “Israel ‘Vegan- oder auch Pinkwashing’ vorzuwerfen bedeutet pauschale Israelkritik und kann als linker Antisemitismus bezeichnet werden.”
Zur Definition: ‘Veganwashing’ ist eine Form von ‘Whitewashing’ (Schönfärberei) mit der Absicht, etwas Negatives durch die Assoziation mit Veganismus/Tierrechten schönzureden - z.B. wenn ein Herstellerfirma von Fleischprodukten vegane Alternativen produziert, um ihr Ansehen gegenüber tierfreundlichen Konsument:innen zu steigern, ohne dabei den eigenen Beitrag am Tierleid zu reduzieren. Die Strategie wird also häufig im kapitalistischen Kontext verwendet, manchmal aber auch als politischen Strategie - z.B. im Rahmen einer staatlich-orchestrierten Branding-Kampagne, wie wir es in Israel beobachten.
Wenn wir also das ‘Veganwashing’ in Israel kritisieren, richtet sich diese Kritik ganz konkret gegen eine politische Strategie der israelischen Regierung und nicht gegen dessen jüdische Bevölkerung allgemein. Die Kritik an einer Regierung/Politik kann nur dann als “pauschal” bezeichnet werden, wenn diese auch pauschal mit der Bevölkerung gleichgesetzt wird - und genau diese Gleichsetzung impliziert der Vorwurf. Wir finden dies aus folgenden Gründen problematisch: Es impliziert erstens, dass es in Israel nur jüdische Menschen gibt - und zweitens, dass alle Jüd:innen für die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Israelischen Besatzung verantwortlich sind. Insofern kann es also sogar dem wahren Antisemitismus in die Hände spielen, wenn das Judentum pauschal mit Israel gleichgesetzt wird.
Zum Begriff des “linken Antisemitismus”: In unserem Verständnis ist Antisemitismus eine Form von Rassismus und kann somit niemals ‘links’ sein. Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres kulturellen Erbes oder ihrer Religion zu diskriminieren widerspricht allen Grundsätzen der linken Ideologie, und wir distanzieren uns davon vehement. Bestimmt gibt es Leute, die antisemitisches Gedankengut hegen und sich trotzdem selbst als ‘links’ bezeichnen - z.B. Verschwörungstheoretiker:innen, die zwar den Kapitalismus kritisieren, dahinter aber das “Machtwerk einer jüdischen Elite” vermuten. Das ist aber Antisemitismus pur und hat nichts mit Linkssein zu tun. Dementsprechend schwierig ist es für uns, den Vorwurf nicht persönlich zu nehmen - weil er uns nicht nur Rassismus unterstellt, sondern uns auch in die Nähe solcher Verschwörungstheorien rückt. Wir können nur nochmal auf unsere bisherige Arbeit verweisen und betonen, dass es uns um die Menschenrechte ging.
Vorwurf Nr 2: “Israel ‘Pinkwashing’ vorzuwerfen bedeutet, nicht anzuerkennen, dass in anderen Ländern Schwule gefoltert und getötet werden.”
Vorweg: In der Sendung gehen wir kurz aufs Thema ‘Pinkwashing’ ein, weil es als Teil der ‘Brand Israel’-Kampagne in der gleichen Tradition steht wie das ‘Veganwashing’, aber schon länger existiert und darum breiter dokumentiert ist (siehe Quellen). Fürs Verständnis war es uns wichtig, das zu erwähnen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Auch wenn wir es deshalb nur in Bezug auf Israel erwähnen, ist Pinkwashing - genau wie z.B. Greenwashing - ein verbreitetes Phänomen, dass es überall zu denunzieren gilt.
Da ‘Pinkwashing’ auf dem gleichen Prinzip wie ‘Veganwashing’ beruht - sich also an einer liberalen, progressiven Bewegung bedient, um das eigene Image aufzubessern - mussten wir natürlich auch dieses Phänomen kritisieren. Wir haben jedoch nie behauptet, dass es Homosexuellen und anderen Personen der LGBTQ-Community in anderen Ländern besser geht - und verstehen daher auch nicht, woher dieser Vorwurf kommt. Tatsächlich ist Israel, was die Rechte der LGBTQ-Community betrifft, in vieler Hinsicht progressiver als andere Länder - das wird von unserer Analyse auch unterstrichen. Wir bestreiten ja nicht die Tatsache, dass es in Israel progressive Strukturen gibt, im Gegenteil: Wir anerkennen und unterstützen diese, indem wir ihren Missbrauch kritisieren.
Grundsätzlich fragen wir uns: Warum sollten wir nicht eine Politik kritisieren können und gleichzeitig anerkennen, dass auch anderswo schlimme Dinge passieren? Das machen wir schliesslich jedes Mal, wenn wir die Tierausbeutung im eigenen Land kritisieren - wir widersprechen damit nicht der Tatsache, dass es den Tieren in anderen Ländern noch schlechter geht als bei uns. Eine Argumentation wie in diesem Vorwurf begegnet uns gerade im Tierrechtsaktivismus immer wieder. Sie nennt sich ‘Whataboutism’ und ist eine (z.T. unbewusste) Verschleierungstaktik, die beabsichtigt, von der eigentlichen Kritik abzulenken.
Vorwurf Nr 3: “Israel ‘Veganwashing’ vorzuwerfen bedeutet, ein antisemitisches Narrativ zu verwenden: ‘Der Jude ist böse, auch wenn er Gutes tut.’”
Vorweg: Wenn wir den Begriff ‘Veganwashing’ im Kontext von Israel verwenden, sagen wir damit einzig aus, dass die Tierrechtsbewegung in Israel für Propagandazwecke missbraucht wird - nichts weiter. Wir behaupten also weder, dass die Bewegung an sich dort schlecht ist, noch dass deren Missbrauch irgendetwas mit “den Juden” zu tun hat. Wieder wird hier die israelische Regierung pauschal mit allen Jüd:innen gleichgesetzt, was dem Antisemitismus in die Hände spielt und jegliche Kritik an der Israelischen Politik verunmöglicht.
Was wir auch nicht verstehen, ist, ob sich der Vorwurf auf die Verwendung des Begriff ‘Veganwashing’ bezieht oder auf die Tatsachen dahinter - denn diese können schwerlich bestritten werden. Dass die IDF sich als “erste vegane Armee” der Welt verkauft, während sie Menschenrechte mit Füssen tritt, ist kein Geheimnis. Man kann schon behaupten, dass es sich bei solchen Strategien nicht um Imagepflege handelt, aber was soll es denn sonst sein? Die überwältigende Tierliebe von Netanjahu&Co, einer korrupten, ulta-rechts-nationalistischen Regierung?
Es fällt uns schwer, auf einen Vorwurf zu reagieren, der so viele Widersprüche in sich trägt. Auch ist es nicht leicht, “angemessen” reagieren, wenn jede Reaktion einer Rechtfertigung gleichkommt - und somit den eigentlichen Vorwurf bestätigt. Wir möchten stattdessen ein paar Gegenfragen stellen: Wieso ist es nicht selbstverständlich, dass wir uns als linke, pro- intersektionale Aktivist:innen mit dem Kampf für die Menschenrechte überall solidarisieren, auch in Israel-Palästina? Wieso unterstützen wir nicht jene Organisationen in Israel, die sich neben für Menschenrechte einsetzen - wie z.B. ‘Jewish Voice for Peace’ oder die ‘Palestinian Animal League’?
Vorwurf Nr 4: “Boykotte bedeuten pauschale Israelkritik und erinnern an den Nazi-Slogan ‘Kauf nicht beim Juden’.”
Vorweg: Am Ende der Sendung ‘Veganwashing in Israel’ stellen wir die Frage, was wir als bewusste, politische Veganer:innen tun können, um unsere Solidarität mit dem Kampf für die Menschenrechte in Palästina zu zeigen. Dabei verweisen wir auf die BDS-Kampagne, einen Aufruf der palästinensischen Zivilbevölkerung zu ‘Boykott, Desinvestition und Sanktionen’ gegen den Staat Israel. Die Kampagne, die sich zu einer internationalen Bewegung entwickelt hat, will solange Druck machen bis Israel “dem internationalen Recht nachkommt und die universellen Prinzipien der Menschenrechte respektiert”. Sie wurde vom Boykott gegen das südafrikanische Apartheid-Regime inspiriert und wird von wichtigen linken Akademiker:innen wie Noam Chomsky, Naomi Klein oder Angela Davis unterstützt.
Wie andere nicht-hierarchisch-strukturierte Bewegungen ist auch BDS nicht perfekt. Man kann z.B. das Fehlen einer einheitlichen Führung bemängeln; andererseits macht genau dies eine internationale Bewegung aus. Ein Nachteil davon ist, dass jede und jeder sich als Anhänger:in bezeichnen und die Bewegung für eigene Zwecke nutzen kann, ohne dass dies offiziell verurteilt wird - so auch Antisemit:innen. Das sollte jedoch kein Grund sein, eine ganze Bewegung zu diskreditieren, denn rassistisches Gedankengut kann sich überall einschleichen (auch in die eigenen Kreise) - das sollten wir gerade in der Schweizer Tierrechtsbewegung wissen. BDS Schweiz jedenfalls stellt sich entschieden gegen alle Formen von Diskriminierung und Rassismus, einschliesslich Antisemitismus, und betont auf ihrer Webseite, dass die Kampagne “die grundlegenden Rechte aller respektiert, unabhängig von ethnischer, religiöser oder geschlechtlicher Identität”.
Dass BDS kein Boykott an “den Juden” ist, sondern sich spezifisch gegen die brutale und illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den Staat Israel richtet - und dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat - brauchen wir wohl nicht mehr zu erläutern. Trotzdem verstehen wir, dass die Assoziation mit dem Nazi-Slogan ein heikles Thema ist, das Gefühle verletzen kann und darum ernstgenommen werden muss. Dich wie soll diese Assoziation verhindert werden, solange der Staat Israel für sich beansprucht, das gesamte Judentum zu repräsentieren? BDS hat seine Schwächen, ist im Grunde jedoch genauso berechtigt wie die Boykottbewegung gegen die Apartheid in Südafrika, an der sie sich auch orientiert. Gemäss südafrikanischen Augenzeugen, darunter viele Anführer des Widerstands inkl. Desmond Tutu, sind die Zustände in den besetzten palästinensischen Gebieten in vielerlei Hinsicht mit der Apartheid in Südafrika vergleichbar (siehe Quellen).
Vorwurf Nr 5: “Unzählige Länder sind für Kriege und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, werden aber nicht mit Boykotten oder Reiseverboten bestraft.”
Vorweg: Wenn solidarische Menschen sich entscheiden, keine israelischen Produkte zu kaufen, als Künstler:innen nicht dort aufzutreten oder dort keine Ferien zu machen - dann ist das keine Strafe, sondern eine Konsequenz. Wenn Lana Del Rey ihr Konzert in Israel absagt, ist das ebenfalls keine Strafe, sondern ein Statement: Solange sie nicht gleichermassen für israelische als für palästinensische Fans auftreten kann, tut sie es nicht, und das ist ihr gutes Recht. Eine Strafe wären internationale Sanktionen, aber diese bleiben seit Jahrzehnten konsequent aus - was genau der Grund für den Boykott ist.
Wenn man von Ungleichbehandlung spricht, muss man auch bedenken, dass Israel das einzige Land der Welt ist, dass seit über 50 Jahren gegen internationales Recht verstösst und dabei von der USA 3.8 Milliarden Militärhilfe pro Jahr bekommt. Was Sanktionen betrifft, verfügt Israel dank der USA quasi über Immunität - und wird eben nicht “bestraft”, ganz im Gegensatz zu anderen Ländern. Man muss sich bewusst machen, dass die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten tatenlos zusieht, wie in Israel systematisch Menschenrechte missachtet werden - und dass folglich ein Boykott aus der Bevölkerung selbst der einzige, gewaltfreie Weg ist, um eine Veränderung zu bewirken.
Dass es seit Südafrika keine vergleichbare Boykotte von anderen Ländern gibt, hängt auch damit zusammen, dass Menschenrechtsverletzungen in keinem anderen westlich-geprägten Land so normalisiert und institutionalisiert worden sind wie in Israel. Kein anderes Land erhebt den Anspruch, die “einzige Demokratie” im Nahen Osten zu sein, während es einen erheblichen Anteil der eigenen Bevölkerung als minderwertig behandelt und ihnen jegliches Recht auf Selbstbestimmung abspricht (siehe Quellen, "Jewish Nation State Law").
Kriege und Menschenrechtsverletzungen gibt es natürlich in vielen Ländern, aber diese werden meist nicht als fester Teil eines politischen Systems begriffen. Zum Vergleich: Wenn die amerikanischen Ureinwohner:innen in den USA "offiziell" über weniger Rechte verfügen würden als der Rest der Bevölkerung, würde das international auch zu Boykotten führen. Man stelle sich vor: Die Reservate der Native Americans würden militärisch besetzt, bombardiert oder mit kompletten wirtschaftlichen Blockaden belegt. Es gäbe ein segregiertes Strassensystem, Schulen "nur für Nicht-Indigene" und Mauern, um die Bevölkerung vor den Indigenen zu schützen... Wer würde dann noch mit gutem Gewissen in die USA reisen?
Schlussfolgerung
Nach der erneuten Analyse unseres Beitrags kommen wir zum Schluss, dass wir wohl einiges hätten anders formulieren können. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass unsere Quellen v.a. US-amerikanisch waren - und diese haben aus naheliegenden Gründen eine viel weniger zurückhaltende Herangehensweise was das Thema betrifft. Einerseits hat der Holocaust in Europa stattgefunden, andererseits sind sie durch die militärische und politische Unterstützung der USA im Konflikt quasi selbst “involviert”. Gerade weil die USA sich so kompromisslos mit Israel solidarisiert, ist umso mehr Grund für Gegenkritik gegeben. Hinzu kommt, dass US-amerikanische Kritiker:innen den europäischen Kolonialismus aus einer sehr viel nüchterneren Perspektive betrachten und klar die Parallelen zum eigenen Imperium sehen.
Dementsprechend “kompromisslos” haben wir wohl zum Teil einige Aussagen formuliert und dabei nicht in Betracht gezogen, dass sich Menschen dadurch verletzt fühlen könnten. Statt auf dieses potentielle Risiko zu achten, sind wir davon ausgegangen, dass wir uns nicht rechtfertigen müssen, wenn wir uns mit Palästina solidarisieren. Schliesslich ist diese Solidarität, ähnlich wie die mit den Kurd:innen in der Türkei, eines der ältesten politischen Symbole der radikalen Linken. Es steht für die Solidarität mit allen Unterdrückten eines Staatsapparates, und in dieser Tradition stehen wir auch mit dem Tierrechtsradio.
Durch die Auseinandersetzung mit den Reaktionen auf diesen Beitrag ist uns jedoch bewusst geworden. dass wir ein solches politisches Bewusstsein in der Tierrechtsszene nicht voraussetzen können. Dies schmerzt uns zwar, aber wir müssen es akzeptieren - und uns darauf stützen, dass sich immerhin Vertreter:innen aus der Tierbefreiungsbewegung mit uns solidarisiert haben. Wir nehmen es trotz allem als Anlass, das Thema in Zukunft mit mehr Vorsicht und Einfühlsamkeit zu behandeln.
Info: Wir haben bewusst darauf verzichtet, in diesem Statement auf die kolonialistischen Hintergründe oder das Ausmass der Menschenrechtsverletzungen in Israel-Palästina einzugehen. Stattdessen haben wir im folgenden unsere wichtigsten Quellen aufgeführt, die zur persönlichen Recherche dienen können.
Quellen:
Pinkwashing
Veganwashing
BDS
Allgemein
Filme:
Five Broken Cameras (Trailer), Ganzer Film in schlechter Qualität*
The Promise / BBC, 2011 (Trailer)*
Tears of Gaza (Trailer)
Stone Cold Justice (Trailer)
Louis Theroux: The Ultra Zionists | BBC Documentary (Szene)*
*Ganze Filme können bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden.
Sonstige:
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