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Politik probieren: Kapitalismus und Nachhaltigkeit

In dieser Rubrik probiere ich, Nina, Politik - das heisst, ich schaue mir jeweils ein bestimmtes, politisches Thema an und probiere, es zu erklären.

Sendung vom 10.09.22 ("Massentierhaltungsinitiative - Industrialisierung - Kapitalismus")


Wir haben’s gehört: Im Zuge der Industrialisierung wurden sowohl Menschen als auch Tiere immer mehr zu Produktionsmitteln, bzw. zu Waren degradiert. Doch wie kam es eigentlich zur Industrialisierung, und dem damit einhergehenden Kapitalismus?


Viele denken, es fing alles mit der Technik an - der symbolischen Dampfmaschine, die Prozesse vereinfachte, Arbeitskräfte ersetzte und damit die Produktivität steigerte. Doch die Technik im England des 18. Jahrhunderts war nicht neu - schon die alten Römer kannten die Dampfkraft - wieso hat die Industrialisierung also gerade 1760 in England begonnen?


Eine Theorie, die von einer grossen Studie in Oxford gestützt wird, besagt, dass es an den damals vehältnismässig hohen Löhnen der Arbeiter:innen in England lag. Die dortigen Löhne waren nämlich im 18. Jahrhundert sage und schreibe doppelt so hoch wie im Rest des europäischen Kontinents; weshalb sich auch die Textilproduktion langsam aber sicher für das Land nicht mehr lohnte. Es galt, eine günstigere Produktionsmethode zu finden; und zum ersten Mal in der Geschichte waren Maschinen günstiger als Arbeitskräfte.


Man muss sich also klarmachen: Nur wenn die Löhne hoch sind, lohnt sich die Technik - dieses Gesetz gilt bis heute. Es ist tatsächlich quasi das “eherne Gesetz des Kapitalismus”, denn mit der Industrialisierung nimmt auch unser Wirtschaftssystem seine Anfänge. Und um dieses System, also den Kapitalismus, zu verstehen, muss man wissen: “Technik wird nicht eingesetzt, wenn man sie hat - Technik wird eingesetzt, wenn sie sich lohnt”.


Und das ist eben nicht dasselbe.


Dies betont auch Ulrike Herrmann, die das Buch “Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung” geschrieben hat - und auf deren Vortrag “Nachhaltigkeit im Kapitalismus” ich mich heute beziehe. Sie sagt: Erst mit der Industrialisierung kam das Wachstum in die Welt - konnten also Erträge gesteigert werden - und das Wachstum ist es, was den heutigen Kapitalismus ausmacht. Man kann sagen: Ohne Wachstum kein Kapitalismus, und ohne Kapitalismus bzw. Industrialisierung kein Wachstum.


Nun hat uns diese Entwicklung, neben den offensichtlichen Nachteilen, auch viel Gutes gebracht. Mit dem Wachstum stieg der Wohlstand, damit die Lebenserwartung und es gab immer mehr Demokratien auf der Welt. Es gab insgesamt mehr Bildung, mehr Emanzipation und mehr Gleichberechtigung in den letzten 200 Jahren als jemals zuvor - das kann auch der/die grösste Kapitalismus-Kritiker:in nicht bestreiten. Auch wenn diese “segensreichen Errungenschaften” natürlich sehr ungleich verteilt sind…


Ich will damit sagen: Kapitalismus ist nicht nur schlecht. Ulrike Herrmann sagt, theoretisch ist der Kapitalismus sogar eine Win-Win-Situation: Denn nur wenn die Löhne hoch sind bzw. steigen, kann es Wachstum geben - nur dann kann Technik eingesetzt werden, wie wir am Beispiel von England gesehen haben - und nur mit dem Einsatz von Technik kann mehr produziert werden. Doch was bringt es der Wirtschaft, mehr zu produzieren, wenn niemand sich diese Produkte leisten kann? Der Kapitalismus profitiert in der Theorie als von höheren Löhnen, und das käme ja eigentlich auch den Arbeiter:innen zugute.


ABER - Es gibt ein "aber''. Und zwar ein grosses.


Wenn Kapitalismus Wachstum bedeutet, und Wachstum der Einsatz von Technik ist, dann bedeutet Wachstum auch immer: Einsatz von fossiler Energie. - Davon ist zumindest Ulrike Herrmann überzeugt. Sie sagt, es sei eine Illusion zu glauben, “alternative Energien” könnten jemals das Wachstum garantieren. Im Gegenteil: Wenn wir auf Wind- und Solarkraft umsteigen, würden wir weniger produzieren und weniger wachsen, das ist ja auch der Sinn der Sache. Aber was ist denn mit dem Kapitalismus, wenn wir nicht mehr wachsen? Kann dieser denn überhaupt noch existieren?


Die Antwort ist: Nein.


Wir sehen jetzt schon, dass der Kapitalismus in Realität eben nicht so eine Win-Win- Situation ist, wie er es in der Theorie sein sollte. Immer wieder kommt es zu Crashs wie z.B. der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, die mit dem New Yorker Börsencrash 1929 begann. An dem Tag stürzte der Wert von Aktien und Wertpapieren an der New Yorker Börse drastisch ab; viele Menschen hatten damals in Aktien investiert und verloren so fast ihr ganzes Erspartes. Dies führte zu Geldknappheit, was wiederum zu Produktionsrückgang, Entlassungen und Massenarbeitslosigkeit führte. Doch wie kam es dazu?


In den 10 Jahren, die der Wirtschaftskrise vorangingen, 1919-1929 war die Industrialisierung in vollem Gange. Es wurde viel mehr produziert, nur dummerweise sind die Löhne nicht gestiegen - was zu einer Überproduktion und schlussendlich zur Krise führte. Es lohnte sich für die Kapitalist:innen nicht mehr, in ihre Unternehmen zu investieren - weil sie eh schon viel zu viel hatten, das sie nicht verkaufen konnten. Also haben sie stattdessen an der Börse spekuliert, was zu einer Blase und schlussendlich zum Kollaps der ganzen Weltwirtschaft führte. In Deutschland endete das, wie wir wissen, in der Wahl von Adolf Hitler.


Wir rekapitulieren: Kapitalismus erzeugt Wachstum, aber er braucht auch Wachstum, um stabil zu bleiben. Wir leben aber in einer Welt, die sich kein Wachstum mehr leisten kann - denn wir verbrauchen heute mit unserem Lebensstandard schon die Erträge aus fast 3 Planeten! Wenn das so weitergeht mit 1,3% Wachstum, rechnet Ulrike Herrmann, sind wir in 60 Jahren bei 6 Planeten, und das geht einfach nicht. Wir können nicht weiter wachsen, wenn wir überleben wollen, das ist eine Tatsache. Der Kapitalismus muss enden, oder er muss zumindest ganz neu gedacht werden.


Insofern können wir uns noch so sehr gegen die Massentierhaltungsinitiative wehren, weil wir denken, sie schade der Wirtschaft. Was der Wirtschaft wirklich schadet, ist die Tatsache, dass sie in ein paar Jahrzehnten nicht mehr existieren wird, wenn wir so weitermachen! Es stimmt: Wir können den Kapitalismus nicht einfach abschaffen. Aber wir können uns Wege überlegen, wie wir vom Wachstumsgedanken wegkommen, wie wir unsere Gesellschaft progressiv umstrukturieren, damit auch unsere Kinder noch eine Zukunft haben.


Und die Massentierhaltungsinitiative ist ein Schritt in die richtige Richtung.


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